Es ist uns wichtig, dass alle Menschen, die sich für die Kampfkunst interessieren mit den folgenden Ausführungen einen Kompass, ein «Grund-ABC der Kampfkünste» in die Hand erhalten und sich somit in der Vielzahl der Angebote im weitgefächerten Gebiet der Kampfkünste orientieren können. Suchende können sich ein besseres Bild machen, was für sie persönlich als Kampfkunst in Frage kommt und welche Eigenschaften diese enthalten muss.
Mit
diesem Text möchten wir in einer einfachen, für den Laien verständlichen
Sprache, die Vielfältigkeit der zahlreichen Kampfkunststile ohne Beeinflussung
durch allgemeine Werbung oder Zeitschriften aufzeigen. Das «Richtige» für sich
zu finden ist von verschiedenen Faktoren wie zum Beispiel das Alter,
Interessensgebiet(e) und körperlichem Zustand (mental, emotional, seelisch) des
entsprechenden Menschen abhängig.
Es
ist zudem wichtig, wieviel Zeit man selbst zur Verfügung hat oder sich nehmen
möchte, also investieren (aufopfern) möchte um sich mit den Erfahrungen und mit
dem Training einer der verschiedenen Kampfkunstarten auseinander zu setzen.
Mit
diesem kurzen Einblick kann es verständlicher werden, weshalb so viele
Kampfkunststile entwickelt wurden, da Menschen Individualisten sind mit einem
Herdendrang.
Das
Üben der verschiedenen Formen sind wie ein ABC, mit dem Sie Ihre eigenen Wörter
schreiben und sich formulieren können (körperlich, emotional, mental und wenn
alles zum Besten steht auch seelisch). Somit wäre der Kreis geschlossen.
Für
die meisten der öffentlich zugänglichen Kampfkünste ist es unerheblich, ob man
weiblich oder männlich ist. Es gibt aber auch tiefgreifende Kung Fu-Stile, wo
es eine wesentliche Rolle spielt, ob man Frau oder Mann ist. Doch von diesem
Kung Fu möchten wir hier nicht sprechen, da diese Art von Kung Fu strengste
Aufsicht während Tag und Nacht durch einen sehr guten Sifu (Lehrer oder
Meister) erfordert. Denn hier können Kräfte geweckt werden, die strengste Diät
auf allen Ebenen – also körperlich, emotionell, geistig – erfordert.
Wir
möchten einige Kampfkunstarten näher vorstellen, die es dem Suchenden erlaubt,
seinen normalen Tagesablauf beizubehalten und es ihm trotzdem ermöglicht,
verschiedene Faktoren wie zum Beispiel Selbstverteidigung, Selbstsicherheit, Selbstfindung
und Volksgesundheit zu befriedigen. Eigentlich können die meisten uns bekannten
Kampfkunstarten auf den erwähnten Gebieten eine sehr gute Hilfe sein. Oder
anders gesagt, es ist möglich hier auf diverse Ebenen gute Erfolge zu erzielen.
Doch man kann nur so viel erwarten, wie man auch bereit ist, an Arbeit, Energie
und Fokus zu investieren. Also nochmals: Alle Kampfkunstarten reiten letztlich
auf demselben Pferd – nur das Aufsteigen auf das Pferd hat verschiedene Formen.
Nun
möchten wir zwei hauptunterschiedliche Gruppen der Kampfkünste kurz beschreiben
und versuchen mit möglichst wenig Fachausdrücke auszukommen (Anmerkung: Hierbei
ist der Beizug des Vortrages von SiGung Suny Kamay über «Kampfkunst im Alltag»
vom 27.10.2020 zu empfehlen):
Die erste
Gruppe ist das «Innere System», auch bekannt als «Innere Stile». Die wohl
bekanntesten davon sind Tai Chi, Qi Gong, Yoga Pa Kua, Hsing-I, Pencak Silat,
Kali Masada etc.
Nicht
wenige Menschen meinen, dass alle diese Stile eines gemeinsam haben, nämlich
die zarten, anmutigen, leichten und feinen Bewegungen ohne direkte
Muskelkontraktionen. Sie sehen Tai Chi als das Synonym der Inneren Stile an.
Manche dieser Kampfkunststile haben in der Tat einige Ähnlichkeiten mit dem
Aussehen von Tai Chi, was den Anschein macht, dass alle anderen Inneren
Kampfkunststile dieser Richtung und Ausführung folgen müssten. Doch dem ist
nicht so. Wenn bestimmte Kampfkunstarten wie beispielsweise Kali Masada oder
Yang Tai Chi optisch verglichen würden, so könnte nicht angenommen werden, dass
diese beide Arten primär das gleiche Ziel verfolgen, nämlich die Kultivierung
von «Chi» oder auch «Innere Kraft». Nun möchten wir das mal unter die Lupe
nehmen. Wie fühlt sich das an, was häufig als «Chi» oder «Innere Kraft»
bezeichnet wird? Ist es etwa das Kribbeln in den Fingern, das Tai
Chi-Trainierende in ihren Gruppen verspüren? Oder steckt noch mehr dahinter?
Denn auch beim Spazieren durch wunderschöne Gegenden, insbesondere Barfusss mit
leicht nach innen gekrallten Fingern stellt sich dieses Kribbeln ebenso ein,
was ganz sicher gut und gesund aber nur der Anfang ist.
Wissen
Sie was ein Vorschlaghammer ist? Können Sie sich auch vorstellen wie ein Presslufthammer aussieht oder gar funktioniert?
Beim
Vorschlaghammer wird die Kraft des Aufpralls durch das Gewicht des
Hammerkopfes, die Länge des Hammerstieles, die Geschwindigkeit und den Weg, den
der Hammer zurücklegt, bestimmt.
Beim
Presslufthammer hingegen liegt der Hammerkopf bereits auf dem zu schlagenden
Objekt auf und gibt Schockwellen ab. Es kann keine Bewegung von aussen
festgestellt werden. Der Weg, die Grösse und das Gewicht des Hammers ist in der
Geräteverschalung nicht zu erkennen. Das Einzige ist das Geräusch eines
Aufpralls, den man hören kann.
Nun
was hat der Vorschlaghammer mit dem Presslufthammer gemeinsam? Bei beiden sieht
man die Wirkung, nämlich das Einrammen eines Pfostens oder das Verformen eines
Materials etc. Es ist hier auch das Endziel. Die Inneren Stile sind mit dem
Presslufthammer zu vergleichen und die Äusseren Stile sind mit dem
Vorschlaghammer zu vergleichen. Das klingt unwahrscheinlich, es entspricht aber
der Tatsache (Wahrheit).
Es
gibt Innere Stile, wobei man sich fast oder gar nicht bewegt, wenn die Kraft
des Presslufthammers entwickelt werden soll. Jeder kann sich vermutlich
vorstellen, dass man Jahre oder Jahrzehnte braucht, um dieses Ziel wirklich zu
erreichen. Ganz klar sind auf dem Weg dorthin viele wunderbare Vorzüge
vorhanden, die eigentlich für viele Menschen der Grund sind, sich diesen Stilen
zu widmen, da keine Akrobatik nötig ist. Es kann darum auch mit schlechter,
körperlicher Konstitution begonnen werden. Der gesundheitliche und ermunternde
Effekt im positiven Sinne ist ganz sicher nicht anzuzweifeln.
Die zweite
Gruppe gehört den Äusseren Stilen (Vorschlaghammer) an. Sie sind auf dem
sogenannten Sportsektor sehr verbreitet wie zum Beispiel das Tae Kwon Do,
Karate, Judo, Thaiboxen, Kickboxen, Boxen und ca. weitere 200 bis 300
verschiedene Kung Fu-Systeme. Auch einige bei uns heimischen Arten wie Ringen,
Schwingen, Pancration und viele der mittelalterlichen spanischen oder
französischen Fechtkünste gehören in diese Kategorie der Äusseren Stile. Im
weiteren ist das französische Savate sowie die englischen, schottischen,
französischen und baskischen Kampfkünste mit Stock und/oder Messer sowie das
russische Sambo und das japanische Jiu Jitsu als derartige Kampfkunststile bekannt.
Es
sind weitere Äusseren Stile vorhanden, die auf extreme Beweglichkeit, Ausdauer
und Kraft voraussetzen oder aufgebaut sind. Kurz gesagt, es gehören alle
Äusseren Stile dazu, die Akrobatik beinhalten oder voraussetzen. Hauptmerkmale
sind Schulung der Flexibilität (über die Körpernatur hinaus) bis manchmal hin
zu extremen Balanceübungen und einen Zeitaufwand von ca. 60 % für Formen,
Choreographie, Ausdauer und Muskeltraining. Die zur Zeit bekannteste Form ist
das moderne chinesische Wushu sowie den nahen Verwandten aus allen alten,
klassischen, überlieferten Kung Fu-Stilen, die die Grundlage für dieses
moderne, sportliche Wushu bilden. Dieses Wushu ist für Kinder sehr gut
geeignet, da überschüssige Energie in guten Bahnen gelenkt werden.
Bei
den eindeutigen Äusseren Stile wie Tae Kwon Do, Karate und den Anfängerstufen
von Shaolin-Stile gehören laute Schreie dazu. Das sogenannte «Chi» soll so
veräusserlicht werden. Diese Schreie der Äusseren Stile sollte nicht mit den
lang gezogenen eher leisen Lauten oder Mantras aus dem Qi Gong, Yoga etc.
verwechselt werden (verinnerlichte Vibrationen und Schwingungen), die
innerliche Reinigungsprozesse bewirken.
Die
bekanntesten Stile für diese Äusseren Arten ausserhalb Chinas sind das
japanische Oyama-Karate, das Thaiboxen, Krav Maga, das burmesische Bandung,
Viet Vo Nham, einige Silat-Stile und ferner einige indische sowie afrikanische
Stile. Schwieriger einzugliedern wäre das brasilianische Capoiera. Es ist
akrobatischer, religiöser, mystischer und voller Heimtücke. Für das tiefere
Ergründen müsste man mehr von Vodoo verstehen. Anstelle von Capoiera könnten Jugendliche
ebenso gut Rapdancen oder Hip-Hopen etc.
Zwischen
der ersten und zweiten Gruppe, den Inneren und Äusseren Stile, gibt es auch
eine sogenannte «graue Zone» wie beispielsweise das Wing Chun Kung Fu und
artverwandten Stile wie Jeet Kuen Do etc. Dieser Grauzonenbereich kann man gut
in den «3-cm-Fauststössen (Inch Punches)» des Wing Chung Kung Fu oder Jeet Kuen
Do sehen, da die volle Schlagkraft auf nur 3 cm Weg aufgebaut und so auf den
Gegner geschlagen wird. Diese Grauzone ist auch in den philippinischen,
indonesischen, indischen, vietnamesischen und afrikanischen Arten zu sehen.
Im
Wing Chun Kung Fu wird Abhärtung ohne zusätzlichen Zeitaufwand als willkommenes
Nebenprodukt erzielt wie zum Beispiel beim jahrelangen Training an der Wooden
Dummy (ein Holzübungsgerät, das einen Trainingspartner oder einen Gegner
darstellt). Die Flexibilität wird durch das Trainieren der Formen, die das
Hauptmerkmal auf Entspannung der Muskeln richten, ebenfalls als Nebenprodukt
erzielt. Im Wing Chun Kung Fu-System wird mit sogenannten Berührungsreflexen
gekämpft, was nur mittels eines entspannten Körpers möglich ist. Reflexübungen
dazu sind «Chi Sao» für Arme und «Chi Görk» für Beine. Die Holzpuppe (Wooden
Dummy) ist für die Synchronisation, Schnelligkeit, Kraft, Effektivität und
Abhärtung erdacht. Beim «Einmannholz» ist das Hauptziel der «Free Flow», also
das freie Fliessenlassen der Techniken in Kraft und Anwendung.
Diese
«Free Flow»-Übungen kommen auch in den vielen philippinischen, indonesischen
und vietnamesischen Kampfkünsten vor. Zudem sind derartige Reflexschulungen
auch in indischen und afrikanischen Stilen zu beobachten. Alle uns bekannten
Stile hier aufzuzählen würde zu weit führen.
Die
Stile beider Gruppen sind in der Urform dazu erdacht, bei extremen Bedingungen
zu überleben und sich somit auf allen Ebenen (körperlich, emotional, geistig
und seelisch) zu schützen und zu erhalten.
Nun
hoffen wir, dass diese Informationen helfen, einen Weg zu finden, der Ihren
Bedürfnissen am ehesten entspricht. Auskünfte erhalten Sie direkt von Menschen,
die verschiedene Kampfkunststile praktizieren. Dadurch erhalten Sie weiter
tiefere Einblicke über die betreffende Kampfkunstarten. Wir drücken Ihnen die
Daumen.
Vortrag von SiGung Suny Kamay, Gründer der SKEMA Kampfkunstakademie Schweiz, hinsichtlich dem Schweizer Kampfkunstfestival 2006 in Frauenfeld
Veröffentlichung aus Archiv am 24.11.2020