Kampfkunst aus Sicht eines Facharztes (Rehamedizin, Sportmedizin und Allgemeinmedizin)

Die älteste Kunst

Wahrscheinlich ist die Kampfkunst die älteste Kunst der Menschheit. Der Mensch als Spezies, die keine Klauen, Hörner, Giftapparate oder Panzerungen besitzt, entwickelte die Fähigkeit zum Gebrauch von Gegenständen. Dies stellte sich als äusserst erfolgreich heraus im Kampf ums Überleben. Raubtiere konnten abgewehrt werden und Hunger konnte man nicht nur durch Sammeln, sondern auch durch Jagen beheben. Ein Speer alleine sicherte jedoch noch nicht das Überleben gegen einen zigfach stärkeren Bären, erst der gekonnte Umgang damit. Die Kunstfertigkeit im Waffengebrauch musste daher beständig weiterentwickelt und an die Nachkommen überliefert werden. Erst nachdem der Mensch sein Leben und dasjenige seiner Sippe einigermassen schützen konnte, hatte er Kapazität, sich anderen Künsten, wie Töpferei oder Höhlenmalerei zuzuwenden.

Zweierlei Antriebe

Alle Gegenstände und Fertigkeiten ermöglichen eine Nutzung zum Guten wie zum Schlechten. Allein der Mensch entscheidet aus welchem Antrieb er sie benutzt. Mit Küchenmesser und Feuer können Mahlzeiten zubereitet aber auch Verletzungen und Brände verursacht werden. Malerei und Schreibkunst können für erhabene Gefühle sorgen, aber ebenso zu demütigenden Karikaturen und verleumdenden Flugblättern führen. Auch die Kampfkunst kann sowohl zum Schutz von anderen als auch zur Durchsetzung seines eigenen Willens eingesetzt werden.

Gewalt

„Schrecklich immer, auch in gerechter Sache, ist Gewalt“ (Reding in Schillers Wilhelm Tell). Gewalt sollte niemals leichtfertig eingesetzt werden. Sie kann jedoch als letzte Möglichkeit notwendig sein. Dazu drei Beispiele:

  1. Ein Bär findet einen Bienenstock und will sich am Honig vergreifen. Er wird von der Biene gestochen.
  2. Gretel schubst die Hexe in den Ofen.
  3. Wilhelm Tell erschiesst den Landvogt Gessler.

Die drei Beispiele haben folgende Gemeinsamkeiten:

  • Die Gewaltanwendung scheint gerechtfertigt, da ihr ein grosses Unrecht voranging und durch die Gewalt noch schlimmeres verhindert werden konnte. Der Bär hätte durch das Rauben der fleissig angesammelten Vorräte das Überleben des Bienenvolkes gefährdet. Die Hexe hätte den gefangenen Hänsel verspiesen. Gessler hätte weitere sadistische Spielchen getrieben in der Weise wie er Tell befahl, auf sein Kind zu schiessen.
  • Die Gewalt wird nicht (nur) zum eigenen Vorteil, sondern zum Schutz von anderen eingesetzt.
  • Der Zweck der Gewaltanwendung rechtfertigt die Mittel, so dass es keine Regel bezüglich sportlicher Fairness gibt. Die Biene verwendet Gift. Niemand erwartet, dass sie sich mit ihren Ärmchen boxend gegen den Bären wehrt. Gretel nutzt eine List und bereitet der Hexe einen äusserst qualvollen Tod durch Verbrennen. Tell schiesst aus dem Hinterhalt. Er wird jedoch als Nationalheld betrachtet.

Im Leben ist es meist komplexer als hier dargestellt. Bei unklarem Sachverhalt kann es auch einmal angebracht sein, in vertretbarem Rahmen einzustecken, um nicht selbst zum Täter zu mutieren. Gewaltloser Widerstand kann bei einem einigermassen zivilisierten Aggressor funktionieren. Dies zeigte die Unabhängigkeitsbewegung Indiens unter der Führung von Mahatma Gandhi.

Die Frage des Stils

Körperliche Unterlegenheit kann durch geistige Raffinesse und Technik wettgemacht werden. Ein realistischer Kampfkunststil darf deshalb nicht durch Regeln eingeschränkt werden. Er funktioniert:

  • unaufgewärmt
  • in jedem Alter (z.B. trotz Hüft- oder Kniearthrose)
  • in jeder Kleidung (Jupe, Stöckelschuhe, Flip-Flops, Masken)
  • in jeder Umgebung (sitzend am Restauranttisch, eingeengt im Lift, auf vereister Strasse)

Die Bewegungen sollten den natürlichen Gegebenheiten des Körpers angepasst sein. Der Mensch vollführt in seinem Alltagsleben unzählige Greifbewegungen. Diese sind vom motorischen Ablauf her verwandt mit einem Faustschlag, bei dem ebenfalls der Arm nach vorne gestreckt wird. Ein Fusstritt ist bezüglich der Motorik um einiges anders als ein normaler Schritt und daher weniger der menschlichen Anatomie entsprechend. Zudem limitieren die klimatischen Gegebenheiten in unseren Breitengraden, mit häufig nassen und glitschigen Strassen, die erfolgreiche Ausführung eines akrobatischen Fusstritts. Kritisch hinterfragen sollte man auch Stile, bei denen mit nur einem Gegner minutenlang auf dem Boden gekämpft wird. Meist greifen mehrere zusammen einen einzelnen an. Wenn man nur mit einem von denen am Boden kämpft, wird man von den anderen getreten. Überdies liegen an konfliktreichen Orten oft Scherben am Boden.

Es sind nicht alle äusseren Kampfkunststile der körperlichen Gesunderhaltung zuträglich. Einige benutzen überaus harte Spannung, andere erzeugen durch Werfen und Fallen Verschleisserscheinungen an der Wirbelsäule und dritte zeichnen sich aus durch Abhärtungsübungen, die längerfristige Abnützungsschäden zur Folge haben. Die Praktizierbarkeit im Alter sollte jeweils kritisch hinterfragt werden. Es ist nicht nützlich, sich in den jungen Jahren behaupten zu können, während man dies im Alter wegen der Gesundheitsschäden, die man sich durch die Kampfkunst eingehandelt hat, nicht mehr kann.

Das Üben

Auf dem chinesischen Weg der Kampfkunstausbildung erlernt der Schüler erst waffenlose Techniken und wird zuletzt noch in Techniken mit Waffen unterwiesen. Bei den philippinischen Kampfkünsten wird meist erst mit einem Stock das Kämpfen erlernt. Der Stock steht dabei als Prinzip für alle irgendwie verfügbaren Gegenstände, die im Alltag immer in Griffweite sind. Das sind beispielsweise Regenschirm, Küchenmesser, Kugelschreiber oder Flasche. Wenn der Schüler dies gemeistert hat, lernt er auch, sich ohne Waffe zur Wehr zu setzen.

Wichtig ist das Miteinander statt Gegeneinander. Es verhält sich wie beim Paartanz. Wenn beide Tanzpartner miteinander kooperieren, wird der einzelne für sich besser. Arbeiten sie jedoch gegeneinander, gibt es keinen Fortschritt, weil sie sich in ihrem Lernprozess fortwährend behindern. Kooperation und Selbstlosigkeit ist etwas, was unserer wetteifernden, individualbetonten westlichen Mentalität auf Anhieb eher schwer fällt. Aber nur indem man den Übungspartner als Widerstand zum Selbstentdecken des eigenen Körpers sieht, lernt man. Falls beide im anderen nur ein Objekt zum Besiegen und damit zum Aufpolieren ihres Egos sehen, ist kein Lernprozess möglich. Durch das gegenseitige Geben eines realistischen und wohlwollenden Widerstandes meistern beide allmählich ihren Körper und ihre Ängste.

Gerade in Zeiten von Pandemien («Corona-Jahr 2020») werden die in der SKEMA Kampfkunstakademie entwickelten «Long Pole»-Anwendungen gegenüber Leerhandtechniken oder -bewegungen in einem kontaktlosen Selbstverteidigungsprogramm ausgestaltet. Die SKEMA folgt weiter seinem Prinzip einer vereinenden Kampfkunstart, die der stetigen Forschung, Lehre und Wandlung gerecht werden soll.

Innere Stile für körperliche Gesundheit

Der Stärkste kann von einem simplen Grippevirus kampfunfähig gemacht werden. Aus diesem Grund ging es in der Kampfkunst seit jeher auch um die Gesundheit. Nur wer nicht erkrankt ist, kann kämpfen. Das noch in der Antike vorhandene Wissen über die Körperkultur wurde während dem Mittelalter im Osten erhalten. So sind zum Beispiel in der traditionellen indischen und auch chinesischen Medizin zahlreiche Übungen wie Yoga, Qi Gong und Tai Chi zur Gesunderhaltung des Körpers beschrieben. Diese werden seit Jahrhunderten von vielen Menschen erfolgreich praktiziert. Statt gegen einen äusseren Gegner wird gegen Feinde im eigenen Körper, wie Bakterien oder Viren, gekämpft. Da der Kampf im Inneren stattfindet und von aussen nicht sichtbar ist, werden sie als innere Stile bezeichnet. Die Entwicklung von inneren und äusseren Stilen konnte in beide Richtungen erfolgen: Beim Shaolin-Kung-Fu wurden Bewegungen, die ursprünglich als innerer Stil gymnastisch waren, modifiziert zur Selbstverteidigung. Beim Tai Chi wurde eine äussere Kampfkunst umgestaltet, so dass fast nur noch «gymnastische» Aspekte übrig blieben.

Der Kampf mit sich selbst

Der Kampfkünstler setzt sich mit Kräften auseinander, die unmittelbar auf seinen Körper ausgeübt werden. Durch das Üben realisiert er mit der Zeit, dass dies vom Erleben her vergleichbar ist mit Kräften, die vom Alltagsleben auf ihn einwirken:

  • Ein hektischer Arbeitsalltag löst Angst aus zu versagen. Man fühlt sich in die Enge getrieben und gestresst. Dies ist wie im Training, wenn Fäuste auf einen hereinprasseln. Durch Üben erlernt man, diese Fäuste abzuwehren. Die Fäuste verlieren ihre erschreckende Wirkung. Man gewinnt das Vertrauen, dass alles auf einen hereinprasselnde – ob Faust oder Alltagsproblem – abgeschwächt oder abgelenkt werden kann.
  • Eine Meinungsverschiedenheit mit einem Kollegen löst Ärger aus. Dies ist zu vergleichen, wie wenn man im Training mal einen Magenbox einstecken muss. Die Emotion Ärger wurde im Training mit dem Reaktionsmuster verknüpft, dass man dem anderen trotz Schmerz und Ärger verzeiht im Wissen, dass er es kaum absichtlich gemacht hat, und dass Einstecken halt auch mal möglich ist, ohne etwas zu verlieren.

So ermöglicht das Meistern der Prinzipien gegen mechanisch spürbare Kräfte zunehmend eine Übertragung gegen die weniger greifbaren Kräfte der Alltagsprobleme. In einem dritten Entwicklungsschritt folgt das Realisieren, dass man selbst sein grösster Gegner ist. Die Kampfkunst wird dann im Wissen weiterbetrieben, dass der vom Training resultierende Umgang mit mechanischen Kräften sich auch übertragen lässt auf die im eigenen inneren tobenden Gefühlskämpfe.

Text von Dr. med. Emanuel Steinhauer (Hauptfassung vom 25.05.2013, Anpassung am 10.11.2020)
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, für Sportmedizin und Rehamedizin
Vizepräsident des Fördervereins SKEMA

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