Unterscheidung der Begriffe «Selbstvertrauen» und «Selbstwert»

«Expertise» Peter Haas-Ackermann, Coach & Supervisor Beratungspraxis St. Gallen

Beim allgemeinen verwenden und auch im geisteswissenschaftlichen Verständnis bei der Verwendung dieser beiden Begriffe ist scheinbar keine scharfe Trennung möglich, sondern es sind vielmehr in der Anwendung Vermischungen auszumachen, zumal unzweifelhaft bedeutungsgebende Verbindungen zwischen diesen wichtigen Daseins-Aspekten bestehen. Daraus folgere ich, dass jeder Person eine gewisse Bedeutungsfreiheit gegeben ist, wie sie die Begriffe für sich verwenden will. Diesbezüglich verweise ich auf die folgenden Überlegungen, die ich in meinem Text „Erkenntnisse für einen erfüllten Alltag“ die Auswirkungen der bahnbrechenden Erkenntnisse des chilenischen Neurobiologen Humberto R. Maturana (2004) formuliert habe.

Der entscheidende Punkt der Forschungsergebnisse von Maturana[1] ist somit der, die Annahme aufzugeben, eine (wissenschaftliche) Beobachtung sei neutral. Das bedeutet, dass die psycho-biologischen Merkmale des Beobachters notwendigerweise seine Wahrnehmung „organisieren“. Dadurch ist die Wirklichkeit, von der er glaubt, dass er sie identifiziert, keine noble, absolute Wirklichkeit mehr, sondern eine „Wirklichkeit“ in Anführungsstrichen, seine eigene Wirklichkeit. Alles Gesagte wird von einem Beobachter gesagt. Jede Person sagt, was sie sagt, hört, was sie hört, fühlt, was sie fühlt, sieht, was sie sieht etc., gemäss ihrer eigenen Struktur-Determiniertheit (biologischen Grundstruktur): Dass etwas gesagt wird, garantiert nicht, dass es auch so gehört wird. Folglich existieren unendlich viele, ebenso gültige (wirkliche), wenn auch nicht gleichermassen wünschenswerte Welten. Könnte es sein – immer vorausgesetzt ein Mensch vermag dies anzunehmen – dass er dann nicht mehr nach einer absoluten Wahrheit zu suchen braucht und die Kämpfe um das Rechthaben-Wollen beenden kann?

Sprache beeinflusst tiefgreifend, was wir denken und tun. Sprache verändert alles. Nichts hat grössere Wichtigkeit für uns, als wie Ereignisse versprachlicht werden. Maturana legt dar, dass Sprache verletzt: „Es kann genauso wirkungsvoll sein, Menschen mit Sprache zu schlagen wie mit einem Knüppel. Die Einengung, die bestimmte Formen des ‚Versprachlichens’ erzwingen, können genauso gewaltig sein, wie Stahlbetonwände. Worte verändern die Struktur von Menschen und ihrem Leben genauso sicher, wie Gewehrkugeln. Worte hätten jedoch nicht solche Kraft, wären sie nicht so vollständig in das Gefüge unserer Existenz eingewoben.“[2] Nach Maturana scheinen Worte und Symbole für Menschen so grundlegend zu sein wie Klauen und Zähne für die Tiere des Dschungels.

Ohne Sprache gibt es nur das „Jetzt“ – das Leben entfaltet sich von Augenblick zu Augenblick, ohne Selbstbewusstheit oder Bedeutung. Die Sprache ist das Haus in dem wir leben und Bedeutung miteinander erzeugen. Die Mitwelt, die wir wahrzunehmen glauben, ist deshalb eine schöpferische Leistung unseres Gehirns, d.h. eine Erfindung, wie es der Kybernetiker Heinz von Foerster einmal formulierte. Anzuerkennen, dass die Welt das ist, was jeder einzelne Mensch von ihr denkt, birgt ein unglaubliches Potenzial in sich, denn wir erschaffen das Erleben von uns selber, unserer Arbeit, unseren Partnern, Kindern, Eltern, Geschwistern, Kollegen, Vorgesetzten, Kunden, Nachbarn etc. durch unser Denken! Von daher ist es sehr kraftvoll zu wissen, dass wir unser Denken ständig verändern und befähigende Bedeutungen erfinden können.

So haben wir die Wahl, wie wir die Welt und unsere Mitmenschen sehen wollen. Zum Beispiel

  • uns selber als vollständige, statt minderwertige Menschen,
  • unsere Arbeit als Aktivurlaub, gelebte Genialität oder Geschenk, statt Mühsal,
  • unseren Partner als uns verpflichtetes, statt uns kritisierendes Gegenüber,
  • unsere Kinder als aufgeweckt, statt frech,
  • unsere Eltern als besorgt, statt verurteilend,
  • unsere Geschwister als Bereicherung, statt Belastung,
  • unsere Kollegen als Unterstützung, statt Konkurrenz,
  • unsere Vorgesetzten als Förderer, statt Verhinderer,
  • unsere Kunden als Gelegenheit zur Weiterentwicklung, statt Ärgernis und
  • unsere Nachbarn als bunte Abwechslung, statt Störfaktor etc.!

Diesem Konzept folgend könnten wir darauf verzichten, für andere entscheiden zu wollen, was für sie gut oder schlecht, richtig oder falsch, unnütz, krank oder sinnvoll ist. Könnte es sein, dass dieser Respekt andern Menschen und ihren Verhaltensweisen gegenüber vermutlich sowohl einen angenehmeren als auch gewinnbringenderen Umgang mit ihnen zu fördern vermag? In Bezug auf menschliche Beziehungen lohnt es sich zudem folgende Gedanken von Maturana im Bewusstsein zu behalten:

„Macht ist Handeln durch Gehorsam. Wer gehorcht, gewährt Macht. Wir gewähren immer Macht, um etwas zu bewahren: Freunde, Dinge, Prestige, Äusserlichkeiten, Leben… – Gehorsam lässt immer Gefühle von Herabsetzung bei dem/derjenigen zurück, der/die gehorcht, was früher oder später zu emotionalem Widerspruch im Bereich der Selbstachtung und infolgedessen zu Leiden führt. Interpersonelle (zwischenmenschliche) Beziehungen, die auf Gehorsam basieren (Machtbeziehungen), sind unweigerlich irritierend und heuchlerisch. Bei derjenigen Person, der man gehorcht, entsteht ein Gefühl von Stolz und die Wahnvorstellung, ein transzendentales Recht auf Gehorsam zu besitzen – Gefühle, die unvermeidlich zu Blindheit für den/die andere/n und zu Missbrauch führen. Beziehungen, die auf Macht (Gehorsam) gegründet sind, sind ihrem Wesen nach instabil und voller Misstrauen. – In Beziehungen, die auf Liebe gegründet sind, d.h. auf der Anerkennung der Existenz des/der anderen neben einem selbst, taucht die Frage der Macht nicht auf. – Machtbeziehungen hingegen sind keine sozialen Beziehungen, weil sie immer zur Folge haben, dass sich Untergebene/r und Beherrscher/in als Menschen wechselseitig negieren (entwerten).“

Wir haben als menschliche Wesen nur die Welt, die wir zusammen mit anderen hervorbringen, ob wir die andern mögen oder nicht. Ohne Liebe, ohne dass wir andere annehmen und neben uns leben lassen, gibt es keinen sozialen Prozess, keine Sozialisation und damit keine Menschlichkeit.

Persönlich unterscheide ich die Begriffe „Selbstvertrauen“ und „Selbstwert“ aufgrund meiner eigenen 64-jährigen Lebenserfahrungen und jahrzehntelangen Beobachtungen als psychologischer Coach und Berater folgendermassen:

Für die Entstehung des Selbstwertes erscheint es mir entscheidend zu sein, was uns als Kind von unseren wichtigsten Bezugspersonen vermittelt wurde. Besonderes förderlich für ein tragendes und angemessenes (im Gegensatz zu einem übertriebenen) Selbstwertgefühl ist nach meiner Einschätzung, dass ein Kind um seiner selbst willen geliebt und gewürdigt ist ohne das Kind zu überhöhen, in dem jede Handlung mit Superlativen kommentiert wird. Letzteres führt nicht selten zu einem krankhaften Narzissmus, bei dem vor lauter Selbstgefälligkeit und Grössenfantasien jegliches Mitgefühl mit anderen Menschen fehlt. Die Wurzeln der Bewusstwerdung des Selbstwertes werden somit durch die nahen Bezugspersonen in der Kindheit gelegt. Dies schliesst nicht aus, dass auch später noch Menschen den Selbstwert einer Person fördern können, wenn sie dieser mit echter Wertschätzung begegnen. Gerade in der SKEMA wird den Trainierenden jeden Alters viel Wertschätzung entgegengebracht (u.a. weil jeder den anderen als Abay / Freund sieht und begrüsst). Zudem ist innerhalb der SKEMA Wettbewerb und Konkurrenzdenken fremd und wird konsequenter Weise auf Wettkämpfe verzichtet. Allerdings führt meines Erachtens ein gutes Selbstwertgefühl nicht automatisch dazu, dass jemand gleichzeitig auch voller Selbstvertrauen ausgestattet ist, wenn es darum geht eine bestimmte Herausforderung zu wagen. So kann sich ein Mensch seines Selbstwertes zwar sehr wohl bewusst sein, vertraut deswegen jedoch nicht zwingend auch darauf, dass er über die notwendigen Fähigkeiten verfügt, um eine bestimmte Aufgabe zu meistern.

Beispielsweise ist ein guter Mathematiker ohne intensive Übungsmöglichkeit nicht auch ein guter Skirennfahrer, eine mehrsprachige Person ohne jahrelanges Training ein virtuoser Musiker, ein exzellenter Akrobat ohne ausreichende Lern- und Betätigungsmöglichkeiten ein hervorragender Schriftsteller und eine kompetente Expertin in einem bestimmten Berufsfeld aufgrund dieser beruflichen Qualifikation ist nicht zwangsläufig in der Lage, sich ohne kontinuierliches Training wirksam körperlich verteidigen zu können, wenn sie gewaltsam angegriffen wird. Deswegen ist davon auszugehen, dass das Einüben einer Fähigkeit Selbstsicherheit schaffen und zur Überzeugung führen kann, einer bestimmten Aufgabe gewachsen zu sein. Alain Sutter, der frühere Instinktfussballer und Fussballinternationale sowie Coach und aktueller Sportchef des FC St. Gallen vertritt nach meinem Verständnis seiner in einem persönlichen Gespräch mir gegenüber geäusserten Aussagen die Auffassung, dass dann von Selbst-Vertrauen gesprochen werden kann, wenn jemand sich selbst vertraut und deswegen aus einer verinnerlichten Selbstsicherheit und der damit verbundenen Freude – anstatt aus Erfolgsdruck – heraus erfolgreich agieren kann/wird. Wenn ein Mensch über bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügt, wird er sich deswegen trotzdem nicht auch automatisch als jemand betrachten und erleben, der mit einem grundsätzlichen und unerschütterlichen Selbstwert ausgestattet ist. Es ist sogar möglich, dass es einer Person massiv an Selbstwert fehlen kann und sie in Teilaspekten des Lebens dennoch fähig ist sehr effektiv handeln zu können.

So gibt es beispielsweise Akademiker/-innen und Manger/-innen, die beruflich sehr erfolgreich wirken können, deren Selbstwert jedoch völlig im Keller ist. So sagte mir vor vielen Jahren ein erfolgreicher Manager, gut aussehend, teuer gekleidet und mit Gardemassen, verheiratet mit einer tollen und schönen Frau sowie gesegnet mit wunderbaren Kindern, dass er sich als letzter Dreck fühlt. Im Coaching vertraute er mir an, dass er von seinem Vater als 4-jähriger Junge anal vergewaltigt wurde. Ein Akademiker wiederum, der in New York grosse berufliche Erfolge feiern konnte, gab mir zu verstehen, dass er sich ungeachtet dessen für ein unfähiger «Niemand» hält. Die Wurzel dieses Gefühls wertlos zu sein begründete sich in der Tatsache, dass sein Vater, der früher bei der Rhätischen Bahn als Rangierarbeiter tätig war, ihm als Kind immer wieder Folgendes an den Kopf warf, wenn er über ihn verärgert war, weil er etwas nicht konnte oder falsch machte: „Du kannst nichts, bist nichts und wirst nichts!“ Handkehrum kann kompetentes und erfolgreiches Handeln jedoch das eigene Selbstwert-Gefühl durchaus fördern. Dasselbe gilt für Erinnerungen an frühere Erfolge, die lange nicht mehr bewusst waren.

Selbstverständlich gibt es aber auch Menschen, die ein übersteigertes Selbstvertrauen an den Tag legen und ihre Fähigkeiten nicht nüchtern einschätzen können. Solches zeigt sich immer mal wieder in Casting Shows, bei denen die grössten Talente bzw. Superstars gesucht werden und jemand etwas vorzeigt, was alles andere als von Talent und Fertigkeit zeugt, z.B. einen Song vorträgt und dabei keinen Ton trifft, jedoch überzeugt davon ist, über das absolute Zeug zum Superstar zu verfügen. Handkehrum gibt es Kandidat/-innen, die sehr schüchtern und scheinbar ohne das nötige Selbstvertrauen auf die Bühne treten und danach die Jury und das Publikum von den Sitzen reissen mit ihrer künstlerischen Darbietung bzw. dem gesanglichen Talent!

Abschliessend weise ich noch einmal darauf hin, dass ein gesunder Selbstwert in erster Linie in der frühen Kindheit durch die wichtigen Bezugspersonen gefördert werden kann, wenn ein Kind um seiner selbst willen geliebt und gewürdigt ist, ohne dass dabei seine Handlungen und Leistungen überhöht werden. Wenn Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen dieser Selbstwert abgeht, sollen spätere Pädagogen/-innen, Lehrmeister/-innen und Vorgesetzte sowie Trainer/-innen (u.a. SKEMA Schulleiter/-innen und Instruktor/-innen) ihr Hauptaugenmerk darauf legen, die ihnen anvertrauten Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen durch die Art, wie sie diesen gewisse Fertigkeiten vermitteln, darin zu befähigen, dass diese Selbstsicherheit und in der Folge Selbstvertrauen, d.h. vertrauen in sich selbst, mit der Zeit entwickeln können. Gepaart mit der entsprechenden Wertschätzung für die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen, egal ob mit mehr oder weniger Talent ausgestattet, kann dies hoffentlich auch das Selbstwertgefühl der angeleiteten Menschen steigern, vor allem weil die eingeübten Fähigkeiten zu Erfolgserlebnissen führen können!

Es freut mich, wenn ich mit meinen Ausführungen dazu anregen kann, damit sich jeder einzelne Mensch dazu eingeladen fühlt, seinen Beitrag zur Förderung des Selbstwertgefühls und des Selbstvertrauens zu leisten bei den ihm anvertrauten Menschen. Wir können andere Menschen lediglich anregen/anstossen, jedoch nicht kausal bestimmen, denn Menschen sind in sich geschlossene und selbststeuernde Wesen (Maturana) und werden das in sich aufnehmen, was für sie passend erscheint. Ein Schlüssel passt ins Schlüsselloch oder er passt nicht, weil das Schlüsselloch darüber entscheidet.


[1] Paul F. Dell war Direktor des Family Therapy Institute in Virgina Beach und Associate Professor für Psychiatrie und Verhaltenswissenschaften an der Eastern Virgina Medical School

[2] Schon bei Philosophen wie Platon, Kant, Heidegger, Wittgenstein usw. oder Naturwissenschaftern, wie Einstein und Heisenberg finden sich Entsprechungen an diese konstruktivistische Sichtweise.

[3] Efran, Lukens, Lukens: „Sprache Struktur und Wandel“. S. 59, Band 7 systemische Studien, verlag modernes lernen – Dortmund

[4] Schon bei Philosophen wie Platon, Kant, Heidegger, Wittgenstein usw. oder Naturwissenschaftern, wie Einstein und Heisenberg finden sich Entsprechungen an diese konstruktivistische Sichtweise.